Mit der Verbreitung von Homeoffice verlagert sich auch Führung zunehmend ins Digitale. Einige Vorgesetzte, die ihre Teams jahrelang analog geleitet haben, müssen dadurch ihren Führungsstil grundlegend umstellen. Welche Herausforderungen und Chancen bei der digitalen Führung entstehen, wie Führungskräfte trotz Remote Work Nähe schaffen können und wie sein Führungsmodell der Zukunft aussieht, erfahren Sie im Interview mit HR-Experte und Personal-Blogger Stefan Scheller.
Herr Scheller, Sie haben gemeinsam mit Rechtsanwalt Christian Beck das Buch „Praxisleitfaden Homeoffice und mobiles Arbeiten“ geschrieben. Inwieweit glauben Sie, dass Remote Work in Deutschland auch ohne die Pandemie eines Tages so selbstverständlich geworden wäre, wie es heute ist?
Stefan Scheller: Wenn man bedenkt, dass vor der Corona-Pandemie nur ein kleiner einstelliger Prozentsatz an Beschäftigten die Möglichkeit hatte, regelmäßig remote, beispielsweise im Homeoffice, zu arbeiten, hat die Krise sicherlich wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Allerdings darf man trotzdem nicht vergessen, dass auch heute der Großteil der Menschen in Berufen arbeitet, bei denen ein Homeoffice entweder faktisch nicht möglich (z.B. in medizinischen Berufen oder in der Pflege) oder aufgrund von sonstigen Rahmenbedingungen nicht erwünscht ist. Als selbstverständlich sollten wir Remote Work daher nicht nehmen. Die Möglichkeiten professionell Mobilität bei Arbeitsort und Arbeitszeit nutzen zu können, sind mehr Privileg als Selbstverständlichkeit. Das sollten wir bei allen Diskussionen nicht aus dem Auge verlieren.
Der Anteil an remote Arbeitenden hatte sich im Januar 2021 im Vergleich zum Vorjahr von 4 Prozent auf knapp ein Viertel der Erwerbstätigen erhöht. So verlagert sich auch Führung zunehmend ins Digitale. Auf welche Fallstricke sollten sich Führungskräfte hier einstellen?
Auch wenn im besten Fall bereits rund 1,5 Jahre Erfahrung mit virtueller Führung beziehungsweise Führung auf Distanz bestehen, sind die meisten Organisationen noch weit entfernt von einer neuen virtuellen oder gar hybriden Normalität. Führungskräfte könnten sich in den letzten Monaten im wahrsten Sinne des Wortes nur „irgendwie durchgewurstelt“ oder ihr Verhalten auf Begründungen wie „die Situation ist für uns alle nicht leicht“ gestützt haben. Führung auf Distanz erfordert jedoch ein souveränes Bewegen auf dem schmalen Grat zwischen gefühlter Nähe und dem Vermitteln von Sicherheit durch systematische Erreichbarkeit einerseits und der weitgehenden Befähigung zu Eigenverantwortung und dem Schenken von Vertrauen andererseits. Insofern ist der größte Fallstrick meiner Meinung nach das Mindset der Führungskräfte. Mit dem Wunsch nach (weiterhin) „Command & Control“ wird Führung auf Distanz für alle Beteiligten eher zum Horrortrip. Es gilt stattdessen die Devise „Kontrolle aufgeben, Führung behalten“. Insofern ist es keine Schande, wenn auch langjährige Führungskräfte erkennen, dass die erlernten und gepflegten Führungsgewohnheiten möglicherweise nicht mehr angemessen sind und sich hier professionelle Unterstützung holen. Das wäre sogar absolut wünschenswert, weil sich davon ausgehend eine neue Führungskultur entwickeln könnte.
Welche Herausforderungen und Chancen entstehen durch die digitale Führung?
Es beginnt tatsächlich mit einem soliden Basis-Wissen zu mobilem und hybriden Arbeiten. Was passiert mit Arbeits- und Ruhezeiten? Welche Erwartung an Nicht-Erreichbarkeit bestehen? Welche technischen Voraussetzungen müssen gegeben sein – auch mit Blick auf Datenschutz? Wie können bestehende Prozesse für die digitale Welt angepasst oder neu gedacht werden? Oder auch die Frage, welche zusätzlichen Herausforderungen im Bereich Fürsorgepflicht entstehen und wie diesen nachzukommen ist. Meine kleine Aufzählung ist keineswegs abschließend. Sie zeigt aber sehr schön auf, dass diese Basis-Arbeit beim Wissen notwendig ist, um überhaupt erfolgreich in eine Arbeitswelt mit virtueller bzw. hybrider Zusammenarbeit starten zu können. Dies war auch der Hintergrund, warum wir uns für ein entsprechend nützliches Praxishandbuch entschieden haben. Auf der Chancen-Seite sehe ich Ansatzpunkte, um dem, was man gemeinhin unter „New Work“ versteht, jetzt ein gewaltiges Stück näher zu kommen. Aber Vorsicht: Corona-bedingt am heimischen Küchentisch zu arbeiten, ist noch lange kein New Work! Aber das Thema Selbstverantwortung, Eigenorganisation, stärkere Vernetzung, mehr Teilhabe aufgrund des Verschwindens von Pendel- oder Reisezeiten, Hinterfragen eines Purpose und eine Neudefinition von „Spaß bei der Arbeit“ mal weitergedacht, sehe ich schon einen guten Weg, um zukunftsfähige „neue Arbeit“ zu gestalten.
Herausforderung oder Chancen – was überwiegt ihrer Meinung nach und warum?
Vermutlich ist das eher eine Frage der Zeit. Anfangs dürften vor allem die Herausforderungen gefühlt noch überwiegen. Hier fehlen ja valide Erfahrungen bei den meisten Unternehmen – Corona kam unvermittelt und traf die Organisationen in der Regel recht unvorbereitet. Je weiter wir uns aber zeitlich auf dieser Lernreise befinden, um so deutlicher dürften die Chancen sichtbar und vor allem spürbar werden. Die größte Gefahr sehe ich darin, zu schnell – auf dem Hype Cycle würde man vom „Tal der Tränen sprechen“ – aufzugeben und die Erfahrungen aus der Pandemiezeit über den Haufen zu werfen. Natürlich kann das räumliche Zusammenarbeiten vor Ort für manche Unternehmen der bessere Use-Case sein. Aber mobile Arbeit und hybrides Zusammenwirken sind per se weder gut noch schlecht. Sie sind nur passender für eine Arbeitssituation oder eben weniger passend. Wie immer gilt, Entscheidungen mit Augenmaß zu fällen und den Mut zu organisationalen Experimenten zu pflegen.
Welche Rahmenbedingungen sind für effektive Remote Arbeit wichtig?
Als erstes würde man hier vermutlich sofort auf die technisch und räumlich passenden Rahmenbedingungen kommen. Aber es bedarf zusätzlich vieler juristisch klarer Absprachen, Regelungen (beispielsweise in mitbestimmten Unternehmen durch den Abschluss von Betriebsvereinbarungen mit dem Betriebspartner), des Wissens um Datenschutzanforderungen und vieles mehr. Dazu braucht es im Unternehmen ein klares Commitment zum Thema Remotearbeit und entsprechende Treiber des Themas. Häufig wird hier HR gefordert sein, wenngleich ich hier trotzdem eine bereichsübergreifende und sogenannte crossfunktionale Zusammenarbeit als wichtig erachte.
Ein großes Thema in dem Zusammenhang ist auch die mentale Gesundheit von Mitarbeiter:innen. Welche Maßnahmen halten Sie zur Herstellung und Bewahrung der mentalen Gesundheit der Belegschaft im Homeoffice für besonders wichtig?
Auch dieses Thema adressieren wir in unserem Praxisleitfaden. Denn je digitaler die Zusammenarbeit erfolgt, um so mehr müssen die Personalverantwortlichen auf die Menschen „hinter den Geräten“ Acht geben. Führungskräfte und Personalabteilungen tun gut daran, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, dass die manchmal nur noch als „zweidimensionale Pixelhaufen in Ordnungsquadraten“ erscheinenden Kolleginnen und Kollegen durch die Zusammenarbeit auf Distanz auch massiv unter Druck stehen. Schon alleine wenn man bedenkt, dass nicht alle Menschen gleichermaßen die Vorteile von Virtualität erkennen und für sich persönlich nutzen können. Aber auch, weil digitale Workflows per se auf Dauer deutlich anstrengender und fordernder sind. In jedem Fall sollten Organisationen Konzepte haben in den Bereichen Bewegung, Ernährung, Ergonomie, psychische Gesundheit und Stressvermeidung und der drohenden Entgrenzung von Arbeit und Privatleben deutlich entgegentreten. Nicht in einem digital-feindlichen Sinne, sondern mit der Haltung, dass die Vorteile digitaler Zusammenarbeit genutzt, die Nachteile aber bestmöglich kleingehalten werden. Womit wir am Ende wieder bei einer hybriden Arbeitsweise wären, bei der sich Kollaboration nicht in einem „remote only“ erschöpft.
Während Corona gab es in vielen Bereichen keine andere Wahl als digital zu führen. Nach der Pandemie haben Führungskräfte die Freiheit, die Arbeit in ihren Teams selbst zu formen. Wie denken Sie wird Führung in Post-Corona-Zeiten aussehen?
Führung ist immer auch kontextbezogen. Wollen sich Unternehmen beispielsweise eher in Richtung „remote only“ entwickeln, sind die Fähigkeiten zum Führen auf Distanz essentiell. Geht der Weg – wie dies bei nicht wenigen Unternehmen der Fall sein dürfte – eher wieder in eine Zusammenarbeit vor Ort mit der Option ab und an ins Homeoffice zu wechseln, sind die Anforderungen anders gewichtet. Besonders anspruchsvoll dürften Mischsituationen sein, bei denen Teammitglieder vor Ort und remote zeitgleich miteinander agieren. Das Hybride ist auch deswegen aus meiner Sicht die schwierigste Situation, weil hier in der Regel am wenigsten Vorerfahrungen vorhanden sein dürften. Führungskräfte sollten sich in den Organisationen daher einer intensiven Selbstreflexion unterziehen, erkennen, wo sie heute zum Thema stehen (Mindset, Erfahrungslevel, usw.) und dann im konkreten Kontext virtuelle Führung möglichst menschennah und professionell gestalten.
Über Stefan Scheller:
Stefan Scheller ist Gründer von persoblogger.de, einem der bekanntesten deutschsprachigen Online-Portale für die HR-Praxis. Auf der Plattform sind aktuelle Fachinformationen, Studien und Infografiken zum Download, ein Eventkalender sowie eine Jobbörse kosten- und anmeldefrei zugänglich. Neben Übersichten rund um die HR-Szene (Blogs, Podcasts) werden spannende Startups präsentiert. Hauptberuflich ist Stefan Scheller als HR-Manager verantwortlich für die Arbeitgeberkommunikation der DATEV eG in Nürnberg.